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24 City / Er shi si cheng ji (Jia Zhangke, China 2008)


In der chinesischen Stadt Chengdu wird eine riesige Fabrikanlage abgerissen um einem modernen Appartmentkomplex Platz zu machen. 24 CITY folgt drei Generationen von Fabrikarbeitern und deren Angehörigen, die alle von diesem Ereignis persönlich betroffen sind. Entweder, weil sie ihren Job verlieren, oder weil ihren Eltern der Lebensmittelpunkt genommen wird. Denn in dieser Fabrik und auf dem Fabrikgelände waren sie aufgehoben, hatten alles, was man brauchte: Arbeit, Wohnraum, Märkte, Sportplätze, Schwimmbad und Kino.

Die ehemalige Flugzeugturbinenfabrik ("Fabrik 420"), die in den letzten Jahren alles mögliche herstellte, war also das alltägliche und gewohnte Zentrum vieler Menschen, und wie etwa auch in STILL LIFE geht es Jia darum, wie mit dem Vergessen, den Erinnerungen umgegangen wird, und wie diese sozialbiographischen Aspekte an Orte geknüpft sind. Was mit ihnen passiert, wenn die Orte verschwinden. In STILL LIFE z.B. verschwindet eine Stadt in den Fluten des aufgestauten Yangtze. 24 CITY ist im Gegensatz zu diesem Spielfilm aber deutlich dokumentarischer angelegt. Zwar werden auch einige Rollen der Interviewpartner von Schauspielern gespielt, die Hälfte der Interviews sind aber authentisch, sodaß eine hybride Spannungssituation entsteht. Immer wieder werden spielfilmartige, narrativ-erzählerisch Sequenzen zwischen die Interviews geschnitten, doch ist sowohl der realistische Look, als auch sind die mit statischer Kamera durchgeführten Interviews eindeutige Stilmittel des Dokumentarfilms. Ohne allzu melancholisch zu werden oder die Leute zu drängen, offenbaren sich immer wieder anrührend intime oder auch niederschmetternd persönliche Schicksale der Arbeiter, die irgendwie etwas mit der Institution der Fabrik zu tun haben. Nüchtern registriert das die Kamera, und umso umwerfender ist die Wirkung auf den Zuschauer. Lediglich ein manchmal etwas beatiger Soundtrack scheint mir nicht so richtig zum Film zu passen. Aber immer wieder findet Jia großartige Bilder im Alltäglichen, die den Film zugleich zu einem Portrait einer der größten modernen chinesischen Metropolen werden läßt. Eine Stadt, die ein Symbol des Sozialismus abreißen läßt, um darauf moderne Apartments für kapitalschwere Neureiche zu bauen... Schöner Film.

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