Direkt zum Hauptbereich

Cruel Winter Blues / Yeolhyeol-nama (Lee Jeong-beom, Südkorea 2006)


Das Debut des THE MAN FROM NOWHERE-Regisseurs musste ich auf jeden Fall nachholen, zumal man von diesem überwiegend positive bis überschwängliche Filmbesprechungen zu lesen bekommt. Allein, die Kritik, die man an MAN FROM NOWHERE üben kann, trifft bedingt auch auf den Vorgänger zu: denn man befindet sich in einer allzu bekannten Gangsterwelt, mit all ihren Stereotypen und wiederkehrenden Motiven. Jedoch, CRUEL WINTER BLUES weiß in einigen Punkten zu überraschen, die Mechanismen des Genres aufzubrechen und dann wirklich sehr zu begeistern. Das liegt schon daran, dass der völlig unübersichtliche Plot sich erst mit der Zeit entzerrt, bevor er sich kurioserweise wieder verzerrt, um sich dann schließlich zu glätten. Man merkt schnell, dass hier eine verstolperte Prämisse notwendig war, um den Film ins Laufen zu bekommen; und dass diese aber nicht viel mehr als ein Vorwand ist, um etwas ganz anderes zu erzählen. Dieses Andere ist dann etwas sehr Menschliches, das in diesen Gangsterplot hineintritt: nämlich eine Mutter-Sohn-Beziehung, ein späte, nachgeholte, im fortgeschrittenen Alter. Denn die Mutter zweier Söhne "adoptiert" den Gangster aus Seoul, der sich in ihrem Imbiss breit macht, zuerst nur wiederwillig. Dann aber doch, einen Mann, der nie Eltern hatte und in einem Waisenhaus aufwuchs - und derart dem Film Aspekte und Entwicklungen hinzufügt, die aus ihm etwas Besonderes machen.

Doch die Geschichte geht erstmal so: der schon lange im Geschäft seiende Gangster Jae-Mun (Sol Kyung-Gu) reist mit seinem Adepten Chi-Guk (Jo Han-seon), einem ehemaligen Taekwando-Kämpfer, hinaus aufs Land ins Heimatorf des Gangsters Dae-Sik, der einen Kumpel Jae-Muns umgelegt hatte. Rache ist also sein Ansinnen, und durch einen doofen Umstand - und unbewußt - freundet er sich mit dessen Mutter (Na Mun-hee) an, welche eben jene Imbissbesitzerin ist.  Bevor die Beziehung der beiden aber erblühen kann, ist sie auch schon wieder vorbei. Denn für besonders viel glückliche Minuten hat der Film keine Zeit. Schnell kommt heraus, dass der "neue Sohn" wegen einer Attacke auf ihren leiblichen Sohn angereist war, was sie naturgemäß in ein Dilemma stürzt, auch wenn sie dessen illegale Umtriebe verachtet. Jae-Mun hingegen hat dann freilich Skrupel, sein Vorhaben auszuführen, da er seiner neu gefundenen Mutter keinen Schmerz zufügen möchte, da er ihr den Sohn nehmen würde.

Jedoch, wie so häufig im koreanischen Kino, das, wenn es nicht gerade eine romantische Geschichte erzählt, eines der unabdinglichen und unausweichlichen Gewalt ist, überwindet CRUEL WINTER BLUES diese emotionalen Hürden mit dem Aufeinandertreffen der beinahe schon schicksalhaft miteinander kollidierenden Parteien, die dann nicht anders können, als die verinnerlichten Muster abzurufen und nach ihnen zu handeln. Denn jeder ist ein Gefangener seines Systems, vor allem der Verbrecher. Die Vorstellung von der Freiheit derer, die sich außerhalb der gesellschaftlichen Bahnen aufhalten, ist nur eine romantische Projektion der bürgerlichen Gesellschaft, die offenkundig keine Ahnung vom reglementierten Gangsteralltag hat. Die "Gesetzlosen" sind innerhalb ihres Systems einer komplexen Vielzahl an Vorschriften unterworfen, an die es sich zu halten gilt; komme, was da wolle. Was dann auch Chi-Guk, der sympathische Handlanger, während des Films auf bittere Weise in einem wirklich umwerfenden Plottwist erfahren muss.

Zunächst aber geht das große Gemetzel zwischen den beiden Kontrahenten los. Es ist das Prinzip, nach dem gehandelt werden muss. Das Blut des Feindes muss fließen, auch wenn es keinen Sinn macht (und sich sogar mit dem eigenen vermischt). So nimmt CRUEL WINTER BLUES ein zwar erwartbares aber bitteres Ende, obwohl der Film einmal als tragische Komödie begonnen hatte. Zwischendurch war er irgendwann einmal ein zwischenmenschliches Drama geworden, bevor ihn die Mechanismen des Gangsterkinos wieder einholten. Und am Ende bleibt nur Tod und Trauer. Der Abspann verursacht eine Gänsehaut sondergleichen, die Filmmusik rührt zu Tränen. Man hatte all diese Menschen irgendwann liebgewonnen, aber es konnte nur ein kurzer Moment der Nähe sein.







***


Beliebte Posts aus diesem Blog

Tora-san: Our Lovable Tramp / Otoko wa tsurai yo / Tora-San 1 (Yoji Yamada, Japan 1969)

Nach zwanzig langen Jahren des Umherstreifens kehrt Torajiro (Kiyoshi Atsumi) nach Hause zurück: nach Shibamata, einem Vorort von Tokyo. Seine Schwester Sakura (Chieko Baisho) lebt mittlerweile bei Onkel und Tante, da die Eltern verstorben sind. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, auch wenn alle wissen, was er für ein Herumtreiber ist. Sakura steht kurz vor der Hochzeit mit dem Sohn eines reichen Industriellen. Somit wäre für ihre Absicherung gesorgt. Zum gemeinsamen Essen mit dessen Eltern nimmt sie Tora als Begleitung mit; das allerdings war ein Fehler: in fantastisch kopfloser Weise betrinkt er sich und ruiniert mit seiner gespielten weltläufigen Gesprächsführung die Zusammenkunft - er verstößt in jeder Form gegen die gebotene Etiquette. Wie er auch im Folgenden, wenn er sich in die Brust wirft, um etwas für andere zu regeln, ein pures Chaos schafft und alles durcheinander bringt. Der Film allerdings ist keine reine Komödie. Denn Tora werden die Verfehlungen vorgehal

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne

Kandagawa Wars / Kandagawa Inran Senso (Kiyoshi Kurosawa, Japan 1983)

Zwei aufgedrehte Mädels beobachten mit ihren Ferngläsern des Nachts nicht nur die Sterne am Firmament, nein, sondern auch den Wohnblock auf der anderen Seite des Flusses gegenüber. Dort nämlich spielt sich Ungeheuerliches ab: ein junger Mann, der sich für Godard, John Ford, Deleuze und seine Querflöte interessiert, wird von seiner Mutter in regelmäßigen Abständen zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Diese inzestuöse Schweinerei können die beiden nicht mehr länger tolerieren und so planen sie, den Unterdrückten aus seiner Sexhölle zu befreien - um ihn selbst zu besteigen, quasi als Heilmittel. Dabei haben sie nicht bedacht, dass der junge Herr vielleicht sogar ganz glücklich war mit seinem Muttersöhnchenstatus. Einmal fremdgegangen, will er sich direkt von der Brücke stürzen. Zudem wäre auch im eigenen Bette zu kehren: denn eine der beiden aufgeweckten Freiheitskämpferinnen wird selbst recht ordenlich unterdrückt. Ein ekliger Brillentyp, sowas wie ihr Freund, besteigt sie in unersättli