Direkt zum Hauptbereich

Rebels of the Neon God / Qing shao nian nuo zha (Tsai Ming-liang, Taiwan 1992)


Die beiden jugendlichen Kleinkriminellen Ah-tze (Chen Chao-jung) und Ah-ping (Jen Chang-bin) verbringen ihre Tage und Nächte in den Spielhallen Taipeis und sind ständig damit beschäftigt, Telephone und Automaten zu knacken und mit den Motorrädern durch die nächtliche Großstadt zu heizen. Dabei lernen sie die hübsche Ah-kuei (Wang Yu-Wen) kennen, die sich zu einem der beiden hingezogen fühlt - doch nach der ersten gemeinsamen Nacht scheint das Interesse von männlicher Seite abgeflaut. Währenddessen bricht der Student Hsiao-Kang (Lee Kang-sheng) sein Tutorium ab und driftet durch die Stadt. Als er von seinem Vater (Tien Miao) aufgegriffen wird, einem Taxifahrer, der den rüpelhaften Ah-tze von der Straße hupt, zerschlägt dieser den Außenspiegel des Taxis - worauf es zu einem Unfall kommt. Später entdeckt Hsiao-Kang ihn in der Spielhalle wieder und beginnt, ihn zu verfolgen. Vermutlich, um Rache zu nehmen.


Tsais erster Spielfilm ist schon beinah eine Quintessenz seines Schaffens: hier sind bereits alle Motive präsent oder zumindest angelegt, und auch der Stamm des Schauspielerensembles ist gefunden. Die Wohnung der Eltern ist exakt dieselbe, die sie auch in der späteren Filmen sein wird - etwa in THE RIVER. Ob es nun die desolaten Familienverhältnisse sind, in der Kommunikation nicht mehr stattfindet, der Aberglaube der Mutter, die Einsamkeit des Protagonisten, der prasselnde Regen, die überschwemmte Wohnung, die Lovehotels in Taipei, aber auch die naturalistische Kamera (in diesem Film sicher am "kunstlosesten"), der sprunghafte Schnitt mit seinen Jump-Cuts, die trostlosen Locations, der spärliche Einsatz der Musik, die Montage der verschiedenen Erzählstränge und die zunächst scheinbare Ziellosigkeit der Handlung - hier lässt sich all dies bereits finden. Einzig auf musicalhafte Songeinspieler und Tanzrevuenummern muss noch verzichtet werden.


REBELS OF THE NEON GOD ist zudem spannend erzählt und faszinierend zugleich, die manchmal bemängelte spröde Arthousigkeit ist noch in eine relativ stringente Narration gepackt, sodaß Tsai-Neulinge mit diesem Film nicht nur den chronologisch korrekten Auftakt zur Werkerschließung wählen würden, sondern zugleich die Gewissheit hätten, wenn dieser Film des Ausnahmeregisseurs nichts für einen ist, dass man es dann auch gleich ganz mit ihm bleiben lassen kann. Möglicherweise wäre dann erst der explizit durchsexualisierte THE WAYWARD CLOUD wieder ein Versuch wert. Mir selbst haben jedoch alle seine Filme, in all ihren verschiedenen Nuancen, sehr gut gefallen. Meine kleine Tsai Ming-liang-Werkschau ist damit erstmal abgeschlossen.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Tora-san: Our Lovable Tramp / Otoko wa tsurai yo / Tora-San 1 (Yoji Yamada, Japan 1969)

Nach zwanzig langen Jahren des Umherstreifens kehrt Torajiro (Kiyoshi Atsumi) nach Hause zurück: nach Shibamata, einem Vorort von Tokyo. Seine Schwester Sakura (Chieko Baisho) lebt mittlerweile bei Onkel und Tante, da die Eltern verstorben sind. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, auch wenn alle wissen, was er für ein Herumtreiber ist. Sakura steht kurz vor der Hochzeit mit dem Sohn eines reichen Industriellen. Somit wäre für ihre Absicherung gesorgt. Zum gemeinsamen Essen mit dessen Eltern nimmt sie Tora als Begleitung mit; das allerdings war ein Fehler: in fantastisch kopfloser Weise betrinkt er sich und ruiniert mit seiner gespielten weltläufigen Gesprächsführung die Zusammenkunft - er verstößt in jeder Form gegen die gebotene Etiquette. Wie er auch im Folgenden, wenn er sich in die Brust wirft, um etwas für andere zu regeln, ein pures Chaos schafft und alles durcheinander bringt. Der Film allerdings ist keine reine Komödie. Denn Tora werden die Verfehlungen vorgehal

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne

No Blood Relation / Nasanunaka (Mikio Naruse, Japan 1932)

Der etwa ein Jahr vor Apart from You entstandene Film Nasanu naka , Naruses erster Langfilm, ist unter den noch verfügbaren Stummfilmen eine deutlich ungehobeltere Produktion, als dessen recht bekannter Nachfolger. Schon die Eröffnungssequenz ist ein richtiger Tritt vor die Brust. Mit schnellen Schnitten und agiler Kamera wird die turbulente Verfolgung eines Taschendiebes gezeigt. Bevor der Dieb später auf offener Straße, so die komödiantische Auflösung, die Hosen herunterlässt um seine Unschuld zu beweisen (übrigens sehr zum Amusement der ebenfalls anwesenden jungen Damen, die aus dem Kichern nicht mehr herauskommen). Die Eröffnung aber ist gleich ein radikaler Reißschwenk über eine Straßenszene hinweg, hinein in eine schreiende Schrifttafel mit dem Ausruf: DIEB! Hier die Sequenz: Darauf die Verfolgung des Taschendiebes durch die alarmierten Passanten, die von der Straße zusammenkommen oder aus den umliegenden Geschäften herausstürzen, alles mit schnellen Schnitten m