Direkt zum Hauptbereich

Awaara / The Tramp / Der Vagabund von Bombay (Raj Kapoor, Indien 1951)


Raj Kapoor spielt den kleinkriminellen Taschendieb Raju, der immer noch in seine Jugendfreundin Rita aus der Schulzeit verliebt ist. Diese aber hat er im Laufe der Jahre aus den Augen verloren. Doch plötzlich begegnet er ihr wieder, die alte Zuneigung entflammt erneut, doch Rita gehört als Mündel des Richters Raghunath zur besseren Gesellschaft. Zwei, die also nicht zusammenkommen können, auch wenn sie sich lieben. Die Ursache ihrer gesellschaftlichen Distanz liegt verborgen in vergangenen Ereignissen der Jugend, deren Aufdeckung eines der zentralen Themen des Filmes ist. Jene Rita nämlich ist Anwältin (souverän gespielt von Nargis), die die Verteidigung von Raju übernommen hat, der wegen Mordes am Banditen Jagga angeklagt ist. Sie versucht nachzuweisen, dass er keine persönliche Schuld an seinem Elend und der Tat hat, sondern dass es die Verhältnisse sind, die ihn zu dem gemacht haben, was er geworden ist. Der Richter sieht das freilich anders: das Böse liege in den Genen, und wer einen Verbrecher zum Vater habe, könne unmöglich ein rechtschaffenes Mitglied der Gesellschaft werden.

Rita also verteidigt ihren Jugendfreund und Geliebten Raju gegen ihren Ziehvater und kritisiert damit zugleich die Restriktionen der gesellschaftlichen Ordnung, die den Reichen und Mächtigen das Privileg zugesteht, über allen anderen zu stehen und deren Protagonisten bestrebt sind, jedes Emporkommen der unteren Schichten zu verhindern. So bestätigt sich die bestehende Ordnung als Teufelskreis und verschiedene sozialkritische Szenen, die im Film durchgespielt werden, verdeutlichen sehr genau, wie die Grenzen unüberwindbar scheinen und die Figuren noch tiefer hinab in den Sumpf aus Armut und Verbrechen gestoßen werden. 

Dass der Film nun kein markerschütterndes Sozialdrama geworden ist, liegt an der wie federleichten Inszenierung als Liebesmelodram, gemischt mit einer ordentlichen Portion Komödie. Oft genug inszeniert sich Raj Kapoor als unbeschwerten Tagedieb und Luftikus, der sich mehr oder weniger mit seinem Schicksal abgefunden hat und den nichts so schnell erschüttern kann. Wenngleich er sein einfaches Dasein mitunter durchaus bedauert. Ganz deutlich schlüpft er hier bisweilen in eine Charlie-Chaplineske Tramp-Rolle, die mit Stummfilmreminiszensen arbeitet, mit Grimassen, Überzeichnungen und musikalischen Einlagen. Berühmt geworden ist in dieser Hinsicht vor allem die Slapstick-Szene, in der er in zu kurzen Hosen und einem zerknautschten Hut auf der Straße einem Passanten eine Taschenuhr klaut, dieser das bemerkt und Raju dann gejagt wird - wobei er auf der Flucht auf kuriose Weise verschiedene Verkehrsmittel nutzt. Die Szene driftet schon von Beginn an in den Titelsong Awaara Hoon hinüber, was den komödiantischen Aspekt des Vagabundendaseins  verstärkt. Hier die Szene:


Überhaupt ist der ganze Soundtrack, sind die Songs des Films eine Pracht - komponiert vom Duo Shankar - Jaikishan, und eingesungen (in diesem Fall) von Mukesh. Das ist immer wieder sehr mitreißend, melodiös und mit tollen Rhythmen unterlegt. Die melancholische Grundstimmung des Filmes indes verfliegt niemals so ganz, weiß dann doch der Zuschauer schon früh, dass Raju natürlich der eigentliche Sohn des Richters ist, dessen Mutter damals von ihrem Gatten verstoßen worden war, und zwar aufgrund eines Ereignisses, das, borniert und unfassbar zugleich, hier nicht weiter ausgeführt werden soll. So ist AWAARA dann freilich auch eine Familiengeschichte, bzw. eine Vater-Sohn-Geschichte, aber eben vor allem immer und zentral eine, die auf die unüberbrückbaren Klassen- und Kastenunterschiede hinweist  - und auf den so unerträglichen Standesdünkel. 

Besonders hervorzuheben ist sicherlich noch die neun Minuten lange und bemerkenswerte Traumsequenz - Szene mit etlichen Aufbauten und Gewölk, etwa nach zwei Drittel des Films, an der Kapoor und sein Team angeblich drei Monate lang gearbeitet haben sollen. Es war ein eingespieltes Team bei diesem Film, obwohl es Kapoors erster Film in seinem eigenen Studio RK Films war, gelegen in Chembur, Mumbai; und - wie man liest - finanziert hauptsächlich aus dem Erfolg seines Filmes BARSAAT (der übrigens eine ebenfalls umwerfende Musik aufzubieten hat, und in dem es zu der Violinen-Umarmungsszene mit Nargis kommt, die die Vorlage für das Logo von RK Films abgeben sollte). AWAARA war ein veritabler Megahit nicht nur in Indien sondern im gesamten asiatischen Raum, auch in Russland bis hin zur Türkei, wo sogar noch ein landeseigenes Remake gedreht wurde. AWAARA - "perhaps the best known Hindi film of all time" (Ashok Banker). Absolut umwerfend.

***


Beliebte Posts aus diesem Blog

Tora-san: Our Lovable Tramp / Otoko wa tsurai yo / Tora-San 1 (Yoji Yamada, Japan 1969)

Nach zwanzig langen Jahren des Umherstreifens kehrt Torajiro (Kiyoshi Atsumi) nach Hause zurück: nach Shibamata, einem Vorort von Tokyo. Seine Schwester Sakura (Chieko Baisho) lebt mittlerweile bei Onkel und Tante, da die Eltern verstorben sind. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, auch wenn alle wissen, was er für ein Herumtreiber ist. Sakura steht kurz vor der Hochzeit mit dem Sohn eines reichen Industriellen. Somit wäre für ihre Absicherung gesorgt. Zum gemeinsamen Essen mit dessen Eltern nimmt sie Tora als Begleitung mit; das allerdings war ein Fehler: in fantastisch kopfloser Weise betrinkt er sich und ruiniert mit seiner gespielten weltläufigen Gesprächsführung die Zusammenkunft - er verstößt in jeder Form gegen die gebotene Etiquette. Wie er auch im Folgenden, wenn er sich in die Brust wirft, um etwas für andere zu regeln, ein pures Chaos schafft und alles durcheinander bringt. Der Film allerdings ist keine reine Komödie. Denn Tora werden die Verfehlungen vorgehal

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne

No Blood Relation / Nasanunaka (Mikio Naruse, Japan 1932)

Der etwa ein Jahr vor Apart from You entstandene Film Nasanu naka , Naruses erster Langfilm, ist unter den noch verfügbaren Stummfilmen eine deutlich ungehobeltere Produktion, als dessen recht bekannter Nachfolger. Schon die Eröffnungssequenz ist ein richtiger Tritt vor die Brust. Mit schnellen Schnitten und agiler Kamera wird die turbulente Verfolgung eines Taschendiebes gezeigt. Bevor der Dieb später auf offener Straße, so die komödiantische Auflösung, die Hosen herunterlässt um seine Unschuld zu beweisen (übrigens sehr zum Amusement der ebenfalls anwesenden jungen Damen, die aus dem Kichern nicht mehr herauskommen). Die Eröffnung aber ist gleich ein radikaler Reißschwenk über eine Straßenszene hinweg, hinein in eine schreiende Schrifttafel mit dem Ausruf: DIEB! Hier die Sequenz: Darauf die Verfolgung des Taschendiebes durch die alarmierten Passanten, die von der Straße zusammenkommen oder aus den umliegenden Geschäften herausstürzen, alles mit schnellen Schnitten m