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The 40th Hong Kong International Film Festival 2016


Zum 40. Mal jährt sich nun schon das Hong Kong International Film Festival (kurz: HKIFF) in diesem Jahr, und das Programm sieht, nach erstem Stöbern, wieder ausgezeichnet aus. Einige Filme sind, wie immer schon, von der Berlinale her bekannt (etwa die Retrospektive MACHIMIRI MADNESS mit japanischen Independent-Filmen der 80er Jahre, Lav Diaz' Wettbewerbsfilm HELE, Denis Côtés BORIS WITHOUT BEATRICE, Midi Zs CITY OF JADE, TA'ANG von Wang Bing oder Weinreb & Kazdas I, OLGA HEPNAROVA), eine ganze Reihe weiterer hochaktueller, vor allem auch asiatischer Titel, sind natürlich ebenso zu finden:  zwei Mal Sion Sono mit THE WHISPERING STAR (kommt bei uns von REM im Verleih) und SHINJUKU SWAN; auch gleich zwei Mal Herman Yau, einmal mit dem Eröffnungsfilm THE MOBFATHERS und mit dem auf Cat III hochgestuften Drama NESSUN DORMA; oder der kontroverse TEN YEARS, ein omnibus-Film, der Hong Kong im Jahr 2015 imaginiert und eine politische Dystopie zeichnet. Dann auch eine Würdigung von Wong Kar-weis Produktionsfirma Jet Tone Films, mit verschiedenen Veranstaltungen und round-table-Gesprächen und Screenings von FALLEN ANGELS bis ASHES OF TIME REDUX. Ebenso ist das Programm voller asiatischer Premieren, was etwas merkwürdig für Europäer wirken kann, da einige Filme bei uns bereits im Kino liefen (DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER, Patricio Guzmans THE PEARL BUTTON). In Asien kennt die aber wohl noch kaum jemand. Außerdem natürlich wieder eine ganze Reihe sehenswerter cineastischer Classics, die zumeist dann nochmal aufgeführt werden, wenn sie frisch restauriert worden sind (Lino Brockas INSIANG, verschiedene Bruce Lees). Das geht ebenfalls über regionale Ländergrenzen hinweg und die Filme laufen auch ganz gerne prominent abends um acht Uhr, auf dem besten Programmplatz im Hong Kong Cultural Center, direkt an der Victoria Bay und dem eigentlichen Zentrum des Festivals.

Die meisten Kinos des Festivals sind über ganz Hong Kong verstreut. Was aber nicht problematisch ist, da auf Kowloon bis auf wenige Ausnahmen wirklich alle mindestens mit der U-Bahn sehr schnell zu erreichen sind - oder aber einfach zu Fuß. Neben einigen Multiplexen in der Nähe der Nathan Road, der großen Verkehrsader mitten durch die Stadt, oder dem Grand Cinema in der riesigen Mall des MTR-Bahnhofs auf Kowloon, bei dem man erstmal um eine Indoor-Eislaufbahn herum muss, gibt es eine Reihe neu hinzu gekommener Kinos: etwa das Cine Moko im Osten von Mong Kok oder die Town Hall in der hübschen und friedlichen Satellitenstadt Sha Tin in den New Territories. Eines meiner liebsten Kinos jedoch ist das im Hong Kong Science Museum, das zentral aber doch etwas abseits in East Tsim Sha Tsui liegt, etwa eine Viertel Stunde weg vom Hafen. Dort laufen meist kleinere Produktionen, die irgendeinen unkommerziellen, leicht arthousigen Ansatz haben. Oder auch kleinere Weltkinoproduktionen, die nach dem Festival meist wieder in der Versenkung verschwinden. Vor zwei Jahren habe ich dort etwa Gu Taos tollen Dokumentarfilm THE LAST MOOSE OF AOLOGUYA gesehen, der das Leben einer chinesischen ethnischen Minderheit zeigt, oder LESSONS IN DISSENT des Briten Matthew Torne, ein Film, der das Anführerteam der Studentenrevolte in HK portraitiert, also die Leute um Joshua Wong. Aus dieser Bewegung ist dann ein Jahr später das mit gelben Schirmen bewaffnete Umbrella Movement entstanden. Gerade hat Joshua Wong übrigens seine eigene Partei gegründet.

Der eigentliche Schauplatz des experimentellen Kinos ist aber auf HK Island zu finden, im Hong Kong Arts Center. Das ist in etwa das, was in Berlin das Kino Arsenal ist, nur etwas kleiner. Dort findet man sich zumeist im Umfeld von bebrillten Kunststudenten wieder und man kann nach dem Screening der Avantgarde-Shorts oder eines Films der Japanischen Neuen Welle entspannt in Filmbüchern des hauseigenen Shops blättern. Steigt man dort in die U-Bahn und fährt ein paar Stationen nach Osten, dann kommt man zum Hong Kong Film Archive ("The Hong Kong Film Archive building is a world-class facility", meint man da auf der hauseigenen Webseite ganz unironisch), das zwar nicht direkt am eigentlichen Festivalgeschehen teilnimmt, was aber für einen Besucher keine Rolle spielt. Dort findet sich immer eine schöne Ausstellung mit Filmplakaten und dergleichen, und den ganzen Tag über finden dort Filmvorführungen legendärer oder kanonischer HK-Klassiker statt. Für kleines Geld. Ein reguläres Ticket kostet lediglich HK$40. Dort läuft ein Bruce Lee neben einer Canton-Oper oder einer Komödie von Michael Hui. Momentan zum Beispiel eine Reihe mit dem Titel "Early Cinematic Treasures Rediscovered" mit Filmen mit so sprechenden Titeln wie FLAMES OF LUST (Mok Hong-si, 1946). Es ist also immer nochmal eine gute Alternative, falls einem das Festival zu langweilig werden sollte, man noch etwas mehr von der Stadt sehen will, oder etwas Filmgeschichte aufarbeiten möchte. Das Publikum scheint allerdings generell etwas älter zu sein: hier geht es vor allem um die vergangene, goldene Hochphase des HK-Kinos. Eine Unmenge an kostenlosen interessanten Broschüren, Foldern und Heftchen versüßen den Besuch.

Wenn auch dort nichts laufen sollte und ein Taifun heranrückt, dann bleibt einem natürlich immer noch das - übrigens überwältigende - reguläre Kinoprogramm in den unzähligen Kinos der Stadt. Diese Stadt ist filmverrückt, und wenn ein großer Blockbuster anläuft, dann beginnt die erste Vorstellung morgens um Viertel nach acht. Anderswo habe ich jedenfalls noch niemals eine gut hundert Meter lange Schlange auf der Straße  vor einem Kino gesehen, kurz nach zehn vom Frühstück kommend. Besonders lohnenswert ist die Broadway Cinemathèque im Kubrick's, ein Arthouse-Kino mit vier Sälen, das von aktuellem japanischem Kino, europäischem Arthouse und kleineren eigenen Festivalreihen alles mögliche zeigt. Ständig sind hier "Portugiesische Filmtage", eine "German Week", eine Retrospektive "Hou Hsiao-hsien" oder ähnliches. Es ist völlig unglaublich. Gerade läuft zum Beispiel der neue Film von Shunji Iwai, A BRIDE FOR RIP VAN WINKLE. Letztes Jahr habe ich dort nochmal Jean-Luc Godards ADIEU AU LANGAGE in 3D sehen können, obwohl der eigentlich schon lange aus den Kinos raus war. Aktuell ist, was interessant ist. Nebenan befindet sich auch ein DVD-Shop mit allem, was das Herz begehrt. Aber auch ein Café gehört zum Kubrick's, wie ein Buchladen, in dem man alles an Film- und Kunstbüchern bekommt, was man immer schonmal haben wollte. Zum Beispiel ein Buch über DURIAN DURIAN von Fruit Chan? Dort bekommt man es.

Im Sommer gibt es noch einen kleineren Ableger des Festivals, das HK Summer Film Festival, und im Herbst das wirklich außerordentlich lohnende HK Asian Film Festival, das, wie der Name schon sagt, sich ausschließlich auf asiatische Produktionen fokussiert. Man kann in HK also das ganze Jahr über erstklassig in Kino gehen, insofern dürfte es auch nicht so schwer sein, seine eigenen Reisepläne nach den filmischen Vorlieben auszurichten. Außerdem hat ein Filmfestival eine weitere tolle Eigenschaft im hektischen Hong Kong: während normalerweise ein Filmfestival eine Zeit der Hektik - und im besten Falle - der Ekstase ist, eine Stadt unter Adrenalin setzen kann, kommt man in Hong Kong eher zur Ruhe. Die Stadt, die einen beim ersten Besuch völlig überfordern kann, macht es einem nicht gerade einfach, entspannt zu bleiben. Der dunkle Kinosaal aber bietet immer Schutz vor dem hektischen Treiben und den Menschenmassen. Und eine Klimaanlage.

Michael Schleeh

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Die auf Schneeland bereits besprochenen Filme, die ich auf der Berlinale gesehen habe und die auch dieses Jahr in Hong Kong laufen:

CREEPY von Kiyoshi Kurosawa (Japan)

WU TU / MY LAND von Fan Jian (China)

HEE von  Kaori Momoi (Japan)

THE BACCHUS LADY von E J-yong (Südkorea)

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